Pressebeitrag

ZEIT FÜR BESINNLICHES

Michael S. Zerban, http://www.opernnetz.de vom 26.11.2015

Für viele Menschen beginnt in diesen Tagen die stressreichste Zeit des Jahres. Beruflich stehen die Jahresabschlüsse bevor, die Budgetplanungen für das kommende Jahr laufen auf vollen Touren, womöglich liegt noch ein Endspurt an, um das Jahressoll zu erfüllen. Und privat läuft es nicht viel besser. Wer hat denn auch damit rechnen können, dass Weihnachten plötzlich vor der Tür steht? In der vergangenen Woche verzeichnete das Thermometer im Rheinland noch 19 Grad. Die Anfahrtswege zu den Weihnachtsmärkten werden auch länger, weil vielerorts nur noch Wintermärkte angeboten werden, die kein Mensch braucht. Stopp. Innehalten. Durchatmen.

Eine gute Gelegenheit dazu bieten derzeit zahlreiche Kirchenkonzerte. Da kann man sich einfach mal für einen Moment aus der Hektik in einen für viele Menschen inzwischen ungewohnten Raum zurückziehen, die sakrale Akustik genießen und bekommt oft ungeahnte Spitzenleistungen geboten. Dabei muss es gar nicht immer die ganz großartige Kirchenmusik im Dom einer Metropole sein.

In Remscheid, einer Stadt mit 100.000 Einwohnern im Bergischen Land ganz in der Nähe von Wuppertal, laden die Bergischen Symphoniker mit ihrem Chor zu einem Konzert in der Evangelischen Lutherkirche ein. Nicht Brahms, Mozart oder Verdi stehen auf dem Programm, sondern Joseph Rheinberger mit dem Stern von Betlehem und John Rutter mit Christmas Carols. Ulrich Eick-Kerssenbrock, der den Chor der Bergischen Symphoniker und auch das Konzert in der Lutherkirche leitet, versteigt sich nicht zu überambitionierten Programmen, die er an diesem Ort gar nicht einlösen kann, sondern wählt bewusst Narratives, leicht Nachvollziehbares, ohne dabei in die Banalität abzugleiten. Und trumpft ganz nebenbei mit zwei Solisten auf, die man eher auf anderen Bühnen erwarten würde.

Sopranistin Migena Gjata gilt momentan eher noch als Geheimtipp, zeigt aber in Remscheid, warum. Dunkles, warmes, sympathisches Timbre wechselt ab mit kräftiger Höhe ohne Anstrengung. Viel mehr als eine Kostprobe gibt Rheinberger nicht her, mit der überzeugt Gjata aber voll und ganz. Dass in Remscheid ein Bariton in der Klasse von Rolf A. Scheider auftritt, hat dann aber doch andere Gründe. Er ist „gleich um die Ecke“ der Lutherkirche aufgewachsen, und da ist es aller Ehren wert, dass er auch für einen äußerst kurzen Auftritt in die Heimatstadt reist. Scheider, der sonst eher in großen Rollen auf dem Konzertpodium steht, zuletzt im Hagener Fidelio mit einem überragenden Auftritt glänzte und sich mit seinem warmherzigen Charisma längst einen überregionalen Ruf als Gesangslehrer erarbeitet hat, bleibt der Remscheider Kirchengemeinde nichts schuldig und bringt für einige Momente die große Opernwelt in den schmucklos, eben protestantisch gestalteten Kirchenraum.

Eick-Kerssenbrock verlässt sich ein wenig zu sehr auf die Wirkung der Lautstärke in der Kirche, wenn er Chor und Orchester in den Tutti aufbrausen lässt. Mehr Mut zum Piano schadete wohl Rheinberger als auch den Weihnachtsliedern von Rutter nicht. Von der Ungestümheit abgesehen, gefällt vor allem der Chor mit seinem Engagement. Und er bleibt textverständlich. Wenn er die Christmas Carols swingt, hat man englische Landschaften und britische Gewohnheiten vor Augen. Das holt einen aus dem Alltag, lässt Stress und Pflichten für einen Moment vergessen.

Solche Perlen werden nicht auf dem Tablett serviert. Dazu fehlt den Veranstaltern oft das Budget für die Öffentlichkeitsarbeit und – ja, auch das Know-how. Davon sollten sich Besucher aber nicht abschrecken lassen. Es lohnt sich, nach solchen Aufführungen, die momentan in zahlreichen Kirchengemeinden stattfinden, zu suchen. Wer das Kirchenkonzert der Bergischen Symphoniker übrigens noch einmal erleben will, hat dazu am 6. Dezember Gelegenheit. Dann treten sie – schwer zu finden – in der Kirche St. Joseph in Solingen auf.