EIN SANFTES SCHWEBEN AUS 150 STIMMEN IM KONTERTSAAL

Jan Crummenerl, Solinger Morgenpost vom 23.04.2015

Es ist alles da: Dramatik und Leidenschaft, Liebe und Leises. Und es geht um Leben und Tod. Nicht umsonst nennen manche Spötter sie Giuseppe Verdis beste Oper: seine „Messa da Requiem“. Und tatsächlich ist sie nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmt. Ähnlich wie die „Grande Messe des Morts“ von Berlioz oder „Ein deutsches Requiem“ von Brahms ist Verdis Komposition ein persönliches Bekenntniswerk mit durchaus antiklerikalen Zügen. Verdi geht es um Trost und Hoffnung, nicht um – wie es der Philosoph Ernst Bloch formulierte – eine „katholische Rache-Utopie“, eine „Heimzahlung am Jüngsten Tag“.

Wie so etwas nicht nur klingen kann, sondern wie der Funke zum Überspringen gebracht werden kann, konnte man im umjubelten 8. Philharmonischen Konzert im sehr gut besuchten Konzertsaal erleben. Verdis Requiem, 1874 uraufgeführt und zum Tod des italienischen Freiheitsdichter Alessandro Manzoni geschrieben, stand am Dienstagabend auf dem Programm. Sichtlich in seinem Element war Generalmusikdirektor Peter Kuhn, der als ehemaliger Chef der Bielefelder Oper Spezialist für Operndramatik ist – auch wenn es wie beim Requiem keine Bühne gibt und braucht.

Umsichtig liefen bei ihm die Fäden dieses eineinhalbstündigen Werkes zusammen. Er spornte die Musiker der Bergischen Symphoniker nicht nur zu einer fabelhaften Leistung an: als nuancenreich treibende Kraft, die Solisten und Chor nicht zukleistern. Sondern Kuhn verstand es auch beeindruckend, den dramatischen Bogen vom fast veristisch genommenen „Requiem aeternam“ bis zum zärtlich abschließenden „Libera me“ zu spannen: Immer wieder konnte Kuhn mit neuen Impulsen die Energie des Werkes zum Sprühen bringen, selbst in den fast sphärischen Klängen des „Agnus Dei“, in dem sich Sopran und Mezzosopran schwebend umschmeicheln.

Überhaupt war mit der Wahl der Solisten ein guter Griff getan: gestandene Opernsänger, statt dürrer Oratorienstimmen. Sanft und doch voll tönend und warm führte sich Mezzosopranistin Bettina Ranch im „Dies irae“ ein. Ideale stimmliche Ergänzung im nachfolgenden Duettabschnitt war Rossella Ragatzu (Sopran), die ihre Partien sanft dramatisch und mit Strahlkraft anlegte. Dynamisch ausgefeilt und ausdrucksstark war Tenor Hector Sandoval der Dritte im Solistenbunde. Das Quartett machte Yoo-Chang Nah komplett. Der Bariton sorgte etwa mit seinem kraftvoll drohenden „Confutatis maledictis“ geradezu für Gänsehaut.

Beeindruckender Hauptdarsteller in diesem religiösen Drama aber war der gewaltige Chor. Rund 150 Sängerinnen und Sänger überstrahlten das Orchester. Dabei handelte es sich um den Chor der Bergischen Symphoniker (Einstudierung: Ulrich Eick-Kerssenbrock) und den Landesjugendchor NRW (Einstudierung: Christine Zywietz-Godland und Hermann Godland). Beide Ensembles verschmolzen bei dieser Aufführung zu einer perfekt homogenen Einheit von einer gewaltigen Breite der Ausdruckmöglichkeiten. Ausgefeilte Steigerungswelle ließen das „Dies irae“ zum überwältigenden Erlebnis werden – inklusive der hereindröhnenden großen Trommel, die einen ähnlichen Effekt macht wie das Messer in Hitchcocks berühmter Psycho-Duschszene: Man kennt sie, aber es wirft einen immer wieder um. Das „Dies irae“ aber wird vom Chor entmachtet: Sanft entschwebend gestalten die Sänger gemeinsam mit der Sopranistin das „Libera me“. Leise leuchtet das ewige Licht auf: „lux perpetua“.